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Darf es etwas mehr sein?

Wieviel Realismus braucht ein Spiel?

Meine ersten vier Züge in jedem neuen Spiel sind: »x mich«, »hüpf«, »xyzzy« und »n«. Selten helfen die ersten drei Befehle zu Beginn des Spiels wirklich weiter,aber man bekommt einen ersten Eindruck davon, wie detailliert die Spielwelt programmiert wurde. Ich gebe zu, dass ich enttäuscht bin über ein Spiel, dass mir auf den Befehl »x me« ein »as good-looking as ever« präsentiert. Bin ich nur ein namenloser Abenteurer? Was ist ein namenloser Abenteurer? Was sieht denn so gut an ihm aus? Was hat er an? Wie alt ist er? Ich werde in eine meist außergewöhnliche Situation geworfen und bin nur ein gewöhnlicher Abenteurer? Roger Giner-Sorolla schreibt in seinem berühmten Essay Crime against Mimesis [1]:

»Early adventure games did not bother much with defining the story protagonist. The result (at least in my experience) is an entertaining kind of imaginative romp in which the blank hero takes on the identity of the sweatshirted person at the keyboard, running around the dungeon in tennis shoes, playing the game from within.«

Der namenlose Abenteurer mag seine Berechtigung als blanke Projektionsfläche genießen; ich mag ihn nicht. Und die meisten aktuellen Spiele haben ihn verbannt. (Vgl. John Wood: Player Character Identity in Interactive Fiction [2]) Hier als Beispiele die Helden der Grand-Prix-Beiträge:

> x mich
Du bist Genosch. Obwohl es schon acht Sommer her ist, seit dein Vater dir Haus und Hof für ein Jahr gab, bist du immer noch in deinen jungen Jahren. Alle mögen dich als verantwortungsbewußten und netten Kerl, der leider schon eine erfolglose Werbe hinter sich hat. Außerdem bist du bekannt für dein Können in der Hennenzucht und im Schleichen, sowie für deine Unfähigkeit, beim Singen einen Ton zu treffen.
(Der Angstbaum)

> x mich
Du hast dich extra schick gemacht für deine Bewerbung. Ein billiger Anzug ziert dich, du hast dich ausnahmsweise gekämmt und Deo verwendet. Du siehst also aus wie ein Mensch!
(Die Bewerbung)

> x mich
Du bist es: Marc. 20 Jahre, gegenwärtig Praktikant bei der Rundschau. Gutaussehend und dynamisch. Sportlich und attraktiv. Schön, ohne glatt zu sein, ein interessanter Charakter. Etwas schüchtern, stets ein jungenhaftes Lächeln auf den Und angehender Lokalreporter.
(Mein Leben für Seite 3)

> x mich
Du bist ein Mensch. Der Mensch. Du siehst so ähnlich aus wie ER, sagt man.
(Eden)

Alle Beiträge geben eine Charakterisierung, die versucht, die Atmosphäre des Spiels widerzuspiegeln und damit Teil der Geschichte ist. Vor den Augen des Spielers/Lesers entsteht eine Figur. Und nun geht es weiter: Ich weiß nun, ich bin (z.B.) ein Mensch, aber bin ich es wirklich? Mal schauen:

> x Hand
Du kannst nichts dergleichen sehen.

und:

> x Hand
Ich kenne das Wort »Hand« leider nicht.

Leider? Vielleicht. Hat man schon einige Erfahrung mit Textadventures, weiß man, dass die Spielerfigur nur in seltenen Ausnahmen (z.B. I-0 von Adam Cadre) vom Autor modelliert wird. Spieler, die zum ersten Mal einer interaktiven Geschichte begegnen - so meine Erfahrung - erwarten aber, dass ihr Alter Ego nicht hand- und kopflos durchs Abenteuer läuft. Hier tut sich die große Frage auf, die sich wahrscheinlich jeder schon beim Schreiben von Textadventures gestellt hat: Wieviel Realismus ist notwendig?

Ich weiß es nicht. Aber ich kann von einem Beispiel aus meinem Beitrag zum textfire.de-Grand Prix erzählen. Ich wollte eine Geschichte aus zwei Perspektiven erzählen. Während die Sicht der ersten Person (»ich«, »Stefan«) (aus einem bestimmten Grund) sehr reduziert war und ich daher für diese Perspektive mit Detailbeschreibungen geizen konnte, sollte die zweite Person (»du«, »Marc«) mehr Details wahrnehmen, allerdings nur im Rahmen seines Interesses. Er, Marc, sollte jedoch bei genauerer Betrachtung der Gegenstände mit der Entdeckung weiterer Details oder Gegenstände »belohnt« werden.

So weit so gut. Ich glaube noch immer, dass hier der Realismus für die Geschichte hilfreich war. An anderer Stelle stand er mir im Weg.

In Marcs Büro gibt es eine Kaffeemaschine, die mich fast zur Verzweiflung getrieben hat. Durch das Schreiben von Textadventures ist mir bewusst geworden, in wieviele Teile eine Handlung zergliedert werden kann. Mein Streben nach Realismus verleitete mich hier, es nicht bei dem schlichten Befehl »koch Kaffee« zu belassen. Ich wollte dem Spieler die Möglichkeit geben, die Kaffeemaschine alternativ wirlich zu bedienen. Also: Topf nehmen, Wasser holen, Wasser einfüllen, Filter einlegen, Pulver einfüllen, einschalten, beobachten - fertig.

Moment! Wieviel Wasser kann denn eingefüllt werden? Was ist, wenn der Spieler nicht mit dem Topf, sondern mit einer Tasse Wasser holt? Was ist, wenn der Spieler unterwegs das Wasser in etwas anderes (z.B. einen NPC) gießt? Oder es trinkt? Muss nicht genauso viel Kaffee im Topf sein, wie Wasser in der Maschine war? Was passiert mit dem Pulver, nachdem das Wasser durchgelaufen ist? Muss da nicht Kaffeesatz sein? Und so ging es weiter.

Viel Zeit habe ich auch damit verbracht, dem Spieler das Verb »füll x in y« bzw. »füll y mit x« angemessen zur Verfügung zu stellen. Der (zugegeben holprige) Code für das neue Verb hat etwa 22 if-Abfragen. Schließlich war es geschafft. Und ich war so stolz auf meine realistische Kaffeemaschine, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie in einer Büroecke verstauben zu lassen. So machte ich sie kurzerhand zum Bestandteil des schlechtesten »Rätsels« von »Seite 3«.

Nun denke ich, ich hätte es vielleicht bei »koch Kaffee« belassen und mir stattdessen ein besseres Rätsel überlegen sollen. Die Zeit, die ich für die realistische Darstellung der Kaffeemaschine benötigt habe, steht in keiner vernünftigen Relation zum Verlauf der Geschichte.

Als Spieler freue ich mich über eine realistische Welt; als Programmierer muss ich mir überlegen, wo Abstriche notwendig sind.

________
[1] Roger Giner-Sorolla: Crime against Mimesis

[2] John Wood: Player Identity in Interactive Fiction in XYZZYnews, Ausgabe 9

06.10.2002, Kai Roos

 
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