Anchorhead

Anchorhead ist das beste Textadventure, das ich kenne. Als eines von ganz wenigen Spielen bekommt es von mir fünf von fünf möglichen Punkten. Anchorhead ist ein Vergnügen für Spieler, aber auch eine Lektion für Autoren.

Dem Spieler von Anchorhead bleiben etliche Mühen, die andere Spiele zur Qual machen, erspart. Geschlossene Türen sperrt er mit dem Schlüsselring auf, ohne jeden Schlüssel durchprobieren zu müssen. Der Regenschirm schließt sich von selbst, wenn der Spieler in ein Gebäude tritt oder einen engen Gang geht.

Solche kleinen Aufmerksamkeiten erleichtern es ungemein, ein Spiel zu genießen. Doch Anchorhead ist auch in weit größeren, schwerer messbaren Bereichen innovativ. Innovativ nicht um der Innovation willen, nicht nur Experiment wie Aisle von Sam Barlow (übrigens ein hervorragendes Spiel), sondern durch die Erfindung einer neuen, besseren Spielerfahrung. Innovation in Anchorhead ist immer zu Gunsten des Spielers.

Die Idee, das Spiel in mehrere Abschnitte (nämlich Tage) zu gliedern, ist an sich schon eine deutliche Verbesserung gegenüber etwa dem die Minuten zählenden Deadline von Infocom. Michael Gentry hat die Gliederung zusätzlich gut genützt und schafft es, die zunächst weitläufigen Wanderungen am dritten Tag zu einer fast linearen, spannungsreichen Entwicklung zu verknüpfen. Indem die Karte immer mehr begrenzt wird, indem die Wege des Spielers immer enger an einem vorgefertigten Plot hängen, hat Michael Gentry etwas geschafft, das ich für unmöglich gehalten hätte. Er hat das Zork-artige Abenteuer, bei dem man frei durch die Landschaft läuft, mit dem Plot-getriebenen, Hitchhiker-artigen, stark linearen kombiniert. Eine ähnliche Synthese findet sich meines Wissens höchstens ansatzweise in Wishbringer von Brian Moriarty. Und selbst dort ist die Vermischung weniger ausgefeilt; dort kommen nicht zusätzlich noch Aspekte der detektivischen Ermittlung ins Spiel.

Die Gliederung von Karte und Plot, von Spiel-Zeit und realer Zeit, ist natürlich nicht nur eine Weiterentwicklung von Abenteuer-Konventionen zum Selbstzweck. Das Spiel wird durch Gentrys Verfahren realer, oder zumindest romanhafter, glaubwürdiger, erlebbarer.

Während dieser Aspekt in bisherigen Besprechungen von Anchorhead vernachlässigt wurde, haben viele englischsprachige Rezensenten auf die fairen und logischen Puzzles hingewiesen. Dies ist aber ein Punkt, der sich mittlerweile von selbst verstehen sollte. Zudem sind nicht alle Rätsel in Anchorhead gleich logisch und intelligent, sodass hier kein weiteres Lob nötig ist.

Stehenden Applaus bekommt Gentry für die Spielfigur von Anchorhead, die nicht nur eine Frau ist, sondern vor allem glaubwürdig. Der Spieler schlüpft hier tatsächlich in eine Rolle, wie etwa im Rollenspiel Call of Cthulhu, aus dessen Traditionen Gentry reichlich schöpft. Er beginnt zu denken wie die Figur, oder doch wenigstens ihre Gedanken nach zu denken. Ein bestimmtes Rätsel ist meiner Meinung nach nur lösbar, wenn sich der Spieler wie beschrieben in der Rolle denkt, da es das Wegschenken eines (für das Spiel) offensichtlich extrem wertvollen Gegenstandes verlangt. Ein namenloser Abenteurer würde so etwas nie tun.

Anchorhead wird langfristig ein stilbildendes Abenteuer sein - ein eindeutiger Fortschritt in der Implementierung von Textadventures. Wir Autoren sollten die Lektion so bald wie möglich lernen.